Ein Stück Howards End
Artikel aus Country, Ausgabe 1, S. 30-36

Vor sieben Jahren verliebte sich der Hamburger Inneneinrichter Peter Nolden in eine Filmkulisse: ein von Rosen umranktes Haus in England. Sein altes Cottage in Old Heathfield entstand allein aus dieser Erinnerung.

ES IST NICHT EBEN LEICHT, das Landhaus des Inneneinrichters Peter Nolden zu erreichen. Es geht mit dem Taxi zum Hamburger Flughafen, mit dem Jet nach London Gatwick, dann folgt eine knapp einstündige Autofahrt. Am Ziel reibt man erstaunt die Augen: Was, um des Himmels willen, treibt einen Menschen ausgerechnet hierher?

Eine alte Kirche steht auf einem. Hügel- um sie herum ein Dutzend einfacher Häuser aus viktorianischer Zeit. Oft rüttelt Wind an ihnen, an anderen Tagen liegen sie in Schleiern von Nebel. Es ist mehr Weiler als Dorf: keine Straßenbeleuchtung, kein Bürgersteig, keine Geschäfte. Bis zum nächsten Lebensmittelgeschäft sind es ganze sechs Kilometer. Nie hält ein Bus, manchmal wirkt der Ort wie verlassen. Abwechslung und Amüsement? Nur mit viel gutem Willen könnte man den "Star Inn", einen windschiefen Pub aus dem 14. Jahrhundert, als Stätte der. Zerstreuung bezeichnen. Der Ort heißt Old Heathfield und liegt in Sussex, auf halbem Weg zwischen London und Englands Südküste. "Für mich", sagt Peter Nolden, "ist es die Verwirklichung eines Traumes."

Jeder träumt seinen eigenen Traum. Die Toskana hat Nolden nie gereizt, die Provence war ihm nie wirklich einen Gedanken wert. Sylt? Zu voll! Mallorca? Zu laut! Ibiza? Keine Spur von Interesse! "Aber in Old Heathfield", sagt er, "habe ich mein Haus gefunden und die Welt, nach der ich mich sehnte." Und die Welt, wie er sie aus seiner bäuerlichen, sonnengelben Küche sieht, ist vielschichtig wie Nolden selbst: Er liebt sein englisch überladenes Wohnzimmer. Oft sieht er aus dem Küchenfenster bis in den Hintergarten, wo ganz unbritisch Lavendel blüht. Gleich dahinter beginnt der herrliche Park eines entfernten Nachbarn, eines reichen Mannes, der auf seinem Grund Hirsche züchtet. Still ist es hier, abgelegen und erholsam. Mindestens einmal im Monat kommt Nolden nach Old Heathfield, um diese Bilder zu genießen und zu entspannen.

VOM TRAUM ZUM EIGENEN COTTAGE. Es begann sieben Jahren in der Zeit des großen persönlichen Umbruchs Nolden hatte erst als Krankenpfleger und dann als Lehrer gear- beitet. Nun war er nach einem zweiten Studium Psychologe in Zürich geworden.
Aber immer wenn seine Arbeit in Routine zu erstarren droht, wirft Nolden alles hin. 1992 war es wieder so weit. "Die Zeit war reif fÜr ein neues Leben." Er bereitete seinen Umzug nach Hamburg vor. Ohne viel Geld und ohne jede Ausbildung wollte er sich als Inneneinrichter niederlassen und ein Einrichtungsgeschäft eröffnen. Wie wird ein Psychologe zum Einrichter? "Mich trieb die Sehnsucht nach der heilen Welt. Ich wollte sie für mich und andere schaffen." Eigentlich, sagt er, sei es ein überaus logischer Schritt gewesen: "Erst war das Innere des Menschen mein Metier, nun war die Verpackung dran." Was fehlte, war ein Urlaubsdomizil, an dem er seine Kunst beweisen konnte.

Er besuchte Freunde in Sussex, einem milden Landstrich, der kaum Frost. und Schnee kennt und in dem die Fuchsien zur Größe von Bäumen heranwachsen. Dort begegnete er einer für ihn neuen, charmanten und verträumten Welt. Denn England schätzt die Tradition, die Historie, man liebt das Alte, das mit jeder neuen Schicht von Patina an Reiz gewinnt. Nolden, der sich als "Realist im Hier und Jetzt" bezeichnet, gefiel der versponnene Hang zum Bewahren.

In Sussex ging er ins Kino und sah einen Film, dessen Kulisse ein englisches Landhaus war: "Howards End". Ein romantisches Haus, von vor weißen Rosen und blauem Flieder umwuchert, mit. Getäfelten und üppig eingerichteten Räumen. Vorm brennenden Kamin wurde Tee aus schweren Silberkannen getrunken, durch Sprossenfenster konnte man Blicke schweifen lassen auf graue Wolken und fallende Blätter, das imponierte Nolden. "Als ich das Kino verließ, war die Sache entschieden: Ich wollte mein eigenes ‚Howards End' schaffen."

Die Realisierung des Traumes beginnt. Eine Woche lang fährt Nolden mit einem Makler durch Sussex, besichtigt kleine Schlösser, denkmalgeschützte Cottages und Reetdachhäuser mit schiefen Wänden. Doch die Ernüchterung: Ein Haus wie Howards End kann er sich unmöglich leisten. So etwas kostet mindestens 1,5 Millionen Mark. Ein halbes Jahr später reist Nolden ein zweites Mal und lässt sich von einem Makler nach Old Heathfield fuhren. Dort sieht er ein 128 Jahre altes Haus im Schatten von Eichen, Kastanien und Buchen, aber der Welt von Howards End ist dieses kleine Cottage siriusfern.
"Es war in einem scheußlichen Zustand, ein Haus, das offensichtlich nie geliebt worden war, reduziert auf das Funktionelle." Aber er erkennt: Es ist empfänglich für Zuwendung und Geschmack -und es hat den großen Vorteil, sehr preiswert zu sein. Nolden will es erwerben. Erst hört er eine gute Nachricht: Die Kosten für den Makler zahlen in England stets die Verkäufer. Und dann eine schlechte: Einen Monat muss Nolden noch zittern, denn in England haben Käufer und Verkäufer immer einen Monat Bedenkzeit, bevor der Vertrag rechtskräftig wird. Ob sich ein weiterer Interessent meldet und mehr bietet? Nolden hat Glück: Es meldet sich niemand.

IN STAND SETZEN UND RENOVIEREN. Was findet Nolden in Old Heathfield vor? Ein zweistöckiges bescheidenes Cottage aus rotbraunem Backstein. Vielleicht 110 Quadratmeter Wohnfläche mit einem Wohnraum, einem Esszimmer, zwei Schlafzimmern, einer Küche, die nicht der Rede wert ist, einer Kammer von einer Größe, die zu nichts taugt. Das Bad? Alt und hässlich! Zentralheizung? Nicht vorhanden.

Jedes der vier Zimmer hat zwar seinen eigenen Kamin, aber in jedem Kamin, mühsam und passgenau hineingebaut, arbeitet eine Nachtspeicherheizung. Nolden: "Es war abscheulich." Und das Grundstück? Kaum größer als 500 Quadratmeter und eingegrenzt von einem alten, einen Meter hohen Steinwall.

Der gelernte Psychologe, handwerklich kaum vorgebildet, nimmt sich sechs Monate Urlaub und macht sich an die Arbeit: "Es war ein befreiender und geradezu sinnlicher Vorgang, die Hässlichkeit zu entfernen." Er reißt Tapeten von den Wänden, bricht Einbauschränke heraus, montiert die Nachtspeicherheizungen ab, bis am Ende alles kahl ist. Im ersten Stock kommen ihm die schrägen Wände entgegen -sie bestehen aus nichts als Pappmache. Packt ihn der Jammer? "Nie! Die Arbeit war der reine Spaß. Mit jeder Stunde Arbeit rückte mir das Haus ein wenig näher." Nur selten braucht er Hilfe von Handwerkern. Fachleute durchziehen das Haus mit neuen Wasser- und Stromleitungen, verlegen im Erdgeschoss Terrakotta-Kacheln und installieren die Zentralheizung in jener Kammer, die sonst zu nichts taugt.

EINRICHTEN UND DEKORIEREN. Unternehmen auf der Insel verstehen sich auch als Bewahrer der alten Dinge und handeln mit dem, was vor der Zerstörung alter Häuser in Sicherheit gebracht wurde. Von einem solchen Unternehmen kauft Nolden ein Treppengeländer aus der Epoche von Queen Viktoria, zwei alte Türen und Fußbodendielen. Mit Tonplatten aus dem 19.Jahrhundert deckt er das Dach neu. Für Möblierung und Dekoration zahlt Nolden in etwa den Preis eines Mittelklassewagens. Mehr nicht. Er schafft sparsam möblierte Räume von sachlicher Schönheit in Schlafzimmer und Bad und Zimmer mit schwerer, üppiger Dekoration. Aus der Erinnerung an den Film realisiert der Inneneinrichter sein Wohnzimmer: schwarzer Teppich mit roten Rosen und Blumen in Pastelltöneri, weißes Leinensofa,mit bordeauxfarbenen Kissen, dazu Tapeten und Vorhänge in leuchtendem Gelb, mit rankendem Blattwerk und Blumen. "Es ist ein Raum voller Leben, Gefühl und Emotionen", sagt Nolden: "Es soll dramatisch zugehen." Wenn die Tage dunkel und melancholisch sind, sei es im Wohnzimmer unendlich gemütlich, schwärmt er.

Vier Jahre vergehen, bis Haus und Einrichtung komplett sind und aus dem alten Haus ein Stück Howards End entsteht, kleiner, aber sehr reizvoll. Die Nachbarn? Wie sind die Engländer, wenn man Tür an Tür mit ihnen wohnt? Wunderbar tolerant, sagt Nolden, und urückhaltend. Nie mischen sie sich ein, dass es ärgerlich wird. Und doch, ein bisschen Routine kommt in ihm auf und der Wunsch, nach etwas Neuem zu suchen. Zudem locken die Makler mit einer beachtlichen Menge Geld. Sie wissen: In Noldens Cottage gibt es eine Heizung, die funktioniert, Leitungen, aus denen heißes Wasser sprudelt, Fenster, die tatsächlich schließen, und keinen Wind, der durchs geschlossene Haus weht. So etwas ist in England selten, und die große Nachfrage lässt den Wert des Hauses auf das Doppelte steigen.

Was käme nach Old Heathfield? "Manchmal träume ich davon, nach Portugal zu gehen und dort in einem alten Anwesen ein Hotel zu eröffnen." Viel weißes Leinen gäbe es dort, Nolden würde kochen, die Marmelade selber zubereiten. Das Hotel, sagt er, wäre "einfach, aber das beste". Vier Leben, hat Nolden bereits geführt, vielleicht wird ein solches Hotel der Inhalt von Leben Nummer fünf.

Text: Rüdiger Winter
Fotos: Andreas von Einsiedeln